Philosophen als Kartographen -- A Guide for the Perplexed
Aus «Rat für die Ratlosen» Ex Libris

Original: "A Guide for the Perplexed", E.F. Schumacher, Jonathan Cape Ltd., London, 1977
Die zwei Auszüge weiter unten (Teil I und Teil II) sind aus der deutschen Ausgabe "Rat für die Ratlosen" von Ex Libris, Zürich, 1981



Links

Philosophen als Kartographen (dieser Text als pdf): https://bengin.net/zpapersd/die_philosophen_als_kartographen_schumacher.pdf

"Rückkehr zum menschlichen Mass" Permalink (pdf): https://bengin.net/zpapersd/rueckkehr_zum_menschlichen_mass_schumacher.pdf

"Rückkehr zum menschlichen Mass" (neue Webseite): https://bengin.net/bes/e/rueckkehr_zum_menschlichen_mass_d.html

"Small is Beautiful", English Original (new Webpage): https://bengin.net/bes/e/small_is_beautiful_e.html

Link zur E. F. Schumacher Society, die seine Einsichten weiter pflegt (englisch): https://www.centerforneweconomics.org/

Link zu "Schumacher College" (englisch): https://www.www.schumachercollege.org.uk


Persönliche Bemerkungen


E. F. Schumacher hat bereits vor über vierzig Jahren erkannt, wie gross der Einfluss der ökonomischen Modelle auf unser Denken und Handeln in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft werden wird. Und dass der Mensch mit seinen individuellen Fähigkeiten, Bedürfnissen und Wertepräferenzen im strukturellen Modell ungenügend und in den Formeln, Orientierungsgrössen und Kennzahlen zur Unternehmensführung gar nicht berücksichtigt wird.
Der Titel seines Hauptwerkes: "Die Rückkehr zum menschlichen Mass" heisst ja letztendlich, dass dieses Mass einmal "da" war.
Und tatsächlich hat Adam Smith bereits 1759 "The Theory of Moral Sentiments" verfasst. Erst 1776 veröffentlichte er dann "Wealth of Nations", das die Grundlagen der heutigen Wirtschaftswissenschaften immer noch wesentlich bestimmt. Die damals postulierten Produktionsfaktoren "Boden, Arbeit, Kapital" sind auch heute noch die zentralen Paradigmen, auf denen die heutige Wirtschaftstheorie aufbaut.
Heute benötigen Unternehmen für Ihren Beitrag zum "Wohlstand der Nationen" nebst den materiellen zunehmend auch immaterielle (Wissen, Können.... der Mitarbeiter) Ressourcen. Das primäre Ergebnis der Kopfwerker Arbeit ist immaterieller Natur und entzieht sich objektiven Massstäben, die vor 200 Jahren noch angewendet werden konnten.
Dass die heutigen Ökonomen die Masseinheit für das Kapital gleichzeitig auch noch für den Wertemassstab für die gesamte Wertschöpfungsrechnung verwenden, würde in allen anderen Wissenschaften als wissenschaftliche Todsünde gelten.
Es ist logisch, dass man mit derartigen systemischen Fehlern in den Grundlagen einer Theorie die moderne Realität nicht mehr genügend erklären kann. Dass alle auf dieser Theorie aufbauenden Empfehlungen nur zufällig richtig sein können, braucht man im Jahr 2014 - vierzehn und sechs Jahre nach den letzten beiden Crashs bei den Finanzprodukten - keinem gebildeten Menschen mehr weiter zu erläutern.
Die ökonomischen Lehren mit ihren Grundlagen aus dem Handwerks- und Dampfzeitalter wirken sich in einer "intelligenten" Wirtschaft mit gebildeten Mitarbeitern toxisch aus.
E. F. Schumacher zeigt in seinem Buch Zusammenhänge und Perspektiven einer Entwicklung in der der Mensch (auch) zählt. Die Überlegungen sind auch heute noch zum nach-denken empfohlen.

Zusammenfassend:

In den drei Projekten werden eine erweiterte Sichtweise, eine ergänzende Logik und geeignete Instrumente vorgestellt, mit denen bisherige systemische Mängel an ihrer Wurzel behoben werden.

  1. Project NEMO (New/Next Economic Model) ist wichtig. Es korrigiert systemische Fehler in den Grundlagen der Wirtschaftswissenschaften, indem es diese um die bisher vernachlässigten Dimensionen der Ressourcen und Werte erweitert. Diese Erweiterung prägender Paradigmen in den Grundlagen des klassischen Wirtschaftsmodells ermöglicht die Weiterverwendung bewährter (klassischer) Modelle und verhindert zudem systemisch bedingte Fehlentwicklungen. Kurz gesagt:
    NEMO reduziert den Unterschied zwischen der erlebten Realität und den wissenschaftlichen Erklärungsmodellen für die "nachindustrielle" Wirtschaft. In der Folge ermöglichen diese methodologischen Innovationen eine nachhaltigere Entwicklung von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft.
  2. INSEDE (Institute for Sustainable Economic Development) ist die Organisation zur Weiterentwicklung und Verbreitung der neuen Modelle, deren Grundlagen in den
  3. "Business Engineering Systems" (Toolbox, Mindware, Software) festgehalten sind.
    Ein modulares generisches Werk mit mehreren tausend Dokumenten. Registered Copyright TXu 512 154.

Links:
Project NEMO (New/Next Economic Model): http://project-nemo.org (öffnet in neuem Fenster)
INSEDE (Institute for Sustainable Economic Development): https://insede.org (öffnet in neuem Fenster)
"Business Engineering Systems" (Tools, Mindware, Software): https://bengin.net/bes/ (öffnet in neuem Fenster)

Teil I

Bei einem Besuch Leningrads vor einigen Jahren (August 1968) versuchte ich, mich auf dem Stadtplan zurechtzufinden, es gelang mir nicht. Zwar hatte ich einige grosse Kirchen gesehen, doch keine Spur von ihnen auf dem Stadtplan. Schliesslich kam mir ein Dolmetscher zu Hilfe und sagte: "Wir verzeichnen auf unseren Plänen keine Kirchen." Ich widersprach ihm und wies auf eine, die deutlich gekennzeichnet war. "Das ist ein Museum", sagte er, "keine <richtige Kirche>. Nur <richtige Kirchen> zeigen wir nicht."

Da ging mir auf, dass ich hier nicht zum erstenmal eine Karte in Händen hielt, die vieles von dem, was ich unmittelbar vor mir sehen konnte, nicht zeigte. Meine ganze Schul- und Universitätszeit hindurch hatte man mir Karten vom Leben und vom Wissen gegeben, auf denen nicht die kleinste Spur von den Dingen zu sehen war, die mir am meisten bedeuteten und mir von grösster Wichtigkeit für mein weiteres Leben zu sein schienen. Ich erinnere mich, dass ich jahrelang völlig ratlos war, und kein Dolmetscher kam mir zu Hilfe. Diese Ratlosigkeit dauerte an, bis ich nicht mehr an der Vernunft meiner Wahrnehmungen zweifelte, sondern die Richtigkeit der Karten in Frage stellte.

Aus den Karten, die man mir gegeben hatte, erfuhr ich, dass praktisch allemeine Vorfahren ziemlich rührende Schwärmer und Träumer gewesen seien, die ihr Leben auf der Grundlage irrationaler Glaubensvorstellungen und absurden Aberglaubens geführt hätten. Selbst berühmte Naturwissenschaftler wie Johannes Kepler oder Isaac Newton hatten offenbar den grössten Teil ihrer Zeit und Energie mit unsinnigen Untersuchungen nichtexistierender Gegenstände zugebracht. Die ganze Geschichte hindurch hatte man ungeheure Mengen schwerverdienten Reichtums zur Ehre und zum Ruhm imaginärer Gottheiten verschwendet - und zwar nicht nur meine europäischen Vorfahren, sondern alle Völker in allen Erdteilen und zu allen Zeiten. Ueberall unterwarfen sich Tausende scheinbar gesunder Männer und Frauen äusserst sinnlosen Einschränkungen, wie beispielsweise freiwilligem Fasten; sie peinigten sich durch Ehelosigkeit, vergeudeten ihre Zeit mit Pilgerfahrten, geradezu unglaublichen Ritualen, ständig wiederholtem Gebet und so weiter. Sie kehrten der Wirklichkeit den Rücken - einige tun das noch heute, in unserem aufgeklärten Zeitalter! - und das für nichts und wieder nichts, aus blosser Unwissenheit und Dummheit. Nichts davon wird heute ernstgenommen, es sei denn in Form von Museumsstücken. Aus was für einer Geschichte des Irrtums sind wir hervorgegangen! Was für eine Geschichte war das, in der man Dinge als wirklich ansah, von denen jedes Kind der Moderne wusste, dass es sie ausschliesslich in der Einbildung und Vorstellungskraft gab Unsere gesamte Vergangenheit, ausser der ganz unmittelbaren, taugte nur noch fürs Museum, in dem die Menschen ihre auf die Wunderlichkeit und Unfähigkeit früherer Generationen bezogene Neugier befriedigen konnten. Auch die Schriften unserer Vorfahren hatten kaum einen anderen Nutzen, als sie in Bibliotheken aufzubewahren, wo Historiker und andere Spezialisten diese Hinterlassenschaft studieren und Bücher darüber schreiben konnten. Die Vergangenheit zu kennen wurde als interessant und gelegentlich aufregend angesehen. Man mass ihr aber nicht so viel Wert bei, dass man glaubte, mit ihrer Hilfe die Aufgaben der Gegenwart meistern zu können.

All das und vielerlei anderes, Ähnliches, brachte man mir in Schule und Universität bei, wenn auch nicht offen und klar ausgesprochen. Man konnte die Dinge nicht beim Namen nennen - Vorfahren waren mit Ehrerbietung zubehandeln, denn sie konnten nichts für ihre Rückständigkeit. Sie gaben sich grosse Mühe und kamen der Wahrheit bisweilen durch Zufall auch recht nahe. Ihr Vertieftsein in die Religion war eines von vielen Zeichen dafür, wie unterentwickelt sie waren, was bei unmündigen Menschen ja auch nicht überraschen konnte. Selbstverständlich gab es auch in der Gegenwart ein gewisses Interesse an der Religion, das das früherer Zeiten legitimierte. Noch immer durfte bei passenden Gelegenheiten von Gott dem Schöpfer gesprochen werden, auch wenn jeder Gebildete wusste, dass es keinen wirklichen Gott gab, ganz gewiss keinen, der irgend etwas zu erschaffen vermochte, und dass die Dinge um uns herum durch einen bewusstlosen Entwicklungsprozess, das heisst durch Zufall und natürliche Selektion, entstanden waren. Unglücklicherweise wussten unsere Vorfahren noch nichts von Evolution, so dass sie sich all diese phantasievollen Mythen erdachten.

Auf den Karten des wirklichen Wissens, die für das wirkliche Leben vorgesehen waren, fand sich nichts ausser Dingen, deren Vorhandensein angeblich beweisbar war. Der erste Grundsatz der kartographierenden Philosophen schien zu sein: "Im Zweifelsfall weglassen" oder ins Museum schicken. Mir fiel jedoch auf, dass die Frage, was einen Beweis ausmacht, sehr vielschichtig und schwierig war. Wäre es nicht klüger, as Prinzip umzukehren und zu sagen: "Im Zweifelsfall deutlich herausstellen"? Schliesslich ist etwas, das über jeden Zweifel erhaben ist, in gewisser Hinsicht tot. Es stellt keine Herausforderung mehr für die Lebenden dar.

Etwas als <wahr> anzunehmen birgt immer die Gefahr des Irrtums. Wenn ich mich auf ein Wissen beschränke, das ich als zweifelsfrei wahr ansehe, vermindere ich zwar die Gefahr des Irrtums, vergrössere aber zugleich die Gefahr, etwas zu versäumen, was möglicherweise zu den verzweigtesten, wichtigsten und lohnendsten Dingen des Lebens gehört. Thomas von Aquin lehrte - Aristoteles folgend -: "Und dennoch ist das Geringste, was man an Erkenntnis der höheren Dinge haben kann, erstrebenswerter als die gewisseste Erkenntnis, die man von den geringsten Dingen hat." <Geringe> Erkenntnis wird hier <gewisser> Erkenntnis gegenübergestellt und lässt an Ungewissheit denken. Vielleicht muss es so sein, dass man die höheren Dinge nicht mit derselben Gewissheit wie die geringeren Dinge wissen kann. In diesem Fall wäre es tatsächlich ein grosser Verlust, wenn Erkenntnis auf zweifelsfrei beweisbare Dinge beschränkt bliebe.

Die philosophischen Karten, die man mir in der Schule und der Universität aushändigte, zeigten nicht nur keine <richtigen Kirchen> wie die Karte von Leningrad, von der ich gesprochen habe, sie liessen auch grosse <unorthodoxe> Bereiche der Theorie und Praxis in der Medizin, der Landwirtschaft, der Psychologie und den Gesellschafts- und Politikwissenschaften aus, ganz zu schweigen von der Kunst und sogenannten okkulten und paranormalen Erscheinungen, deren blosse Erwähnung als Zeichen geistiger Unzulänglichkeit angesehen wurde. Insbesondere die prominentesten der offiziellen Lehrmeinungen betrachteten die Kunst lediglich als Möglichkeit der Selbstdarstellung oder der Wirklichkeitsflucht. Auch in der Natur gebe es höchstens zufällig etwas Künstlerisches, das heisst, selbst die schönsten Erscheinungen liessen sich - so sagte man uns - auf eine nützliche Funktion zurückführen, nämlich die, die Reproduktion des Lebens und natürliche Selektion zu sichern. Insgesamt war, von <musealen> Bereichen abgesehen, der ganze Lebensplan von oben bis unten und von links nach rechts in utilitaristischen Farben gezeichnet: Es gab darin fast nichts, was nicht als der Bequemlichkeit des Menschen dienlich oder dem allgemeinen Überlebenskampf nützlich galt.

Je gründlicher wir uns mit den Einzelheiten des Planes vertraut machten, das heisst, je mehr wir von dem in uns aufnahmen, was er zeigte, und uns daran gewöhnten, dass die Dinge fehlten, die er nicht zeigte, desto ratloser, unglücklicher und zynischer wurden wir natürlich. Einige von uns jedoch machten ähnliche Erfahrungen, wie Maurice Nicoll sie beschrieben hat:

"Einmal wagte ich, in einer der am Sonntag stattfindenden Unterrichtsstunden, in denen wir uns unter der Anleitung des Schulleiters mit dem griechischen Neuen Testament beschäftigten, trotz meines Stotterns nach der Bedeutung eines bestimmten Gleichnisses zu fragen. Die Antwort war so verworren, dass ich den ersten Augenblick von Bewusstheit erlebte - das heisst, mir wurde plötzlich klar, dass niemand etwas wusste . . . und von dem Augenblick an begann ich, für mich selbst zu denken, oder vielmehr, ich begriff, dass ich es konnte . . . Ich sehe dieses Klassenzimmer noch deutlich vor mir, die hohen Fenster, die so angelegt waren, dass wir nicht hinaussehen konnten, die Schulbänke, das Podest, auf dem der Schulleiter sass, sein schmales Gelehrtengesicht, seine Angewohnheit, zu gestikulieren und nervös mit den Mundwinkeln zu zucken - und plötzlich diese Enthüllung in meinem Inneren, ich wusste, dass er nichts wusste - das heisst, nichts von den Dingen, auf die es wirklich ankam. Das war meine erste innere Befreiung von der Macht des äusseren Lebens. Von da an wusste ich bestimmt - und das bedeutete stets durch wahrhaft eigene innere Wahrnehmung, die die einzige Quelle wirklichen Wissens darstellt -, dass all mein Abscheu gegen die Religion, so wie man sie mich gelehrt hatte, berechtigt war."

Die von der modernen materialistischen Wissenschaftsgläubigkeit hervorgebrachten Karten beantworten keine der Fragen, auf die es wirklich ankommt. Mehr noch, sie zeigen nicht einmal den Weg zu einer möglichen Antwort: sie leugnen schon die Berechtigung der Fragen. In meiner Jugend, vor einem halben Jahrhundert, war die Lage verzweifelt genug, jetzt aber hat sie sich noch durch die immer striktere Anwendung der naturwissenschaftlichen Methode auf alle Gegenstände und Fachgebiete verschlimmert, denn dadurch wurden auch die letzten Reste überlieferter Weisheit - zumindest in der westlichen Welt - zerstört. Im Namen wissenschaftlicher Objektivität wird lauthals behauptet, Sinn und Werte seien "nichts als Abwehrmechanismen und Reaktionsbildungen"; der Mensch sei "nichts als ein komplizierter biochemischer Mechanismus, dessen Energie von einem Verbrennungssystem geliefert wird, das Computer mit Energie versorgt, die unerhört reich an Speichern für die Aufbewahrung von verschlüsselten Informationen sind"; und Freud versicherte uns gar: ". . . mit Sicherheit (weiss) ich nur das eine, dass die Werturteile der Menschen unbedingt von ihren Glückswünschen geleitet werden, also ein Versuch sind, ihre Illusionen mit Argumenten zu stützen."

Wie soll jemand dem Druck solcher Aussagen widerstehen, die im Namen objektiver Wissenschaft gemacht werden, wenn er nicht, wie Maurice Nicoll, plötzlich die Erfahrung einer <Enthüllung> macht, die ihn wissen lässt, dass die Menschen, die derlei sagen, trotz aller möglichen Gelehrsamkeit nichts von den Dingen wissen, auf die es wirklich ankommt? Die Menschen bitten um Brot, und man gibt ihnen Steine. Sie wollen einen Rat haben für das, was sie tun sollen, "um gerettet zu werden", und man sagt ihnen, die Vorstellung von Rettung oder Heil enthalte keinen rationalen Kern und sei nichts als eine kindliche Neurose. Sie wollen wissen, wie sie als verantwortungsbewusste Menschen leben sollen, und man sagt ihnen, sie seien Maschinen, wie Computer, ohne freien Willen und daher ohne Verantwortlichkeit.

"Die Gefahr . . .", sagt der Psychiater Viktor E. Frankl, ". . . liegt weniger im Mangel an Universalität als vielmehr im Anschein einer Totalität des Wissens, den sich der Wissenschaftler . . . gibt . . . Die Gefahr liegt also gar nicht darin, dass sich die Forscher spezialisieren, sondern darin, dass die Spezialisten generalisieren." Nach vielen Jahrhunderten teleologischer Weltherrschaft haben wir jetzt drei Jahrhunderte einer zunehmend aggressiver werdenden <naturwissenschaftlichen Weltherrschaft> erlebt. Ihr Ergebnis ist ein Ausmass an Verwirrung und Richtungslosigkeit, insbesondere unter der Jugend, das jederzeit zum Zusammenbruch unserer Zivilisation führen kann. Der wahre Nihilismus unserer Tage sei der Reduktionismus, sagt Frankl: "Hinter den Worten <nichts als> verbirgt sich, was die amerikanische Selbstkritik als <reductionism> bezeichnet, und diesen Reduktionismus halte ich wieder für . . . die Maske, hinter der sich heute der Nihilismus verbirgt. Er verrät sich weniger durch das Gerede vom Nichts als vielmehr durch die Redewendung <nichts als>." Menschliche Phänomene werden so zu blossen Epiphänomenen gemacht - soweit Viktor E. Frankl.

Doch bleiben sie unsere Wirklichkeit, alles, was wir sind und was wir werden. In diesem Leben fühlen wir uns wie in einem fremden Land. Ortega y Gasset merkte einmal an, dass "das Leben wie ein Blattschuss auf uns abgefeuert wird". Wir können nicht sagen: "Einen Augenblick! Ich bin noch nicht ganz fertig. Warte, bis ich alles geklärt habe. "Wir müssen Entscheidungen treffen, auf die wir nicht vorbereitet sind, Ziele wählen, die wir nicht klar zu sehen vermögen. Das ist sehr befremdend und allem Anschein nach vernunftwidrig. Es sieht so aus, als seien die Menschen ungenügend <programmiert>. Nicht nur, dass sie bei der Geburt gänzlich hilflos sind und es lange bleiben: selbst als ganz und gar Erwachsene bewegen und verhalten sie sich nicht mit der Sicherheit von Tieren. Sie zögern, zweifeln, ändern ihre Ansicht, laufen hierhin und dorthin, nicht nur im Ungewissen darüber, wie sie an das gelangen, was sie haben wollen, sondern vor allem darüber, was sie wirklich wollen.

Fragen wie <was müsste ich tun?> oder <was muss ich tun, um gerettet zu werden?> sind seltsame Fragen, denn sie beziehen sich auf Ziele und nicht einfach auf Mittel. Auf Verfahrensweisen bezogene Antworten genügen nicht, wie zum Beispiel <sag mir genau, was du möchtest, und ich werde dir sagen, wie du es bekommen kannst>. Die ganze Schwierigkeit liegt eben darin, dass ich nicht weiss, was ich möchte. Vielleicht will ich nur glücklich sein und sonst nichts. Die Antwort aber <sag mir, was du zum Glück brauchst, und ich kann dir dann raten, was du tun sollst> - auch diese Antwort genügt nicht, weil ich nicht weiss, was ich zum Glück brauche. Vielleicht sagt jemand: "Zum Glück braucht man Weisheit" - was aber ist Weisheit? "Zum Glück brauchst du die Wahrheit, die dich frei macht" - welche Wahrheit aber macht mich frei? Wer sagt mir, wo ich sie finden kann? Wer vermag mich zu ihr zu führen oder mir zumindest die Richtung zu weisen, in die ich gehen muss?

In diesem Buch werden wir versuchen, die Welt als Ganzes zu sehen. Das wird bisweilen Philosophieren genannt, und die Philosophie wurde als die Liebe zur Weisheit und als Streben nach Weisheit definiert. Sokrates hat gesagt: "Das Staunen ist das, was ein Philosoph empfindet, und Philosophie beginnt mit dem Staunen. " Er hat auch gesagt: "Keiner der Götter philosophiert oder begehrt weise zu werden, denn sie sind es bereits; auch wenn sonst jemand weise ist, philosophiert er nicht. Ebensowenig philosophieren wiederum die Unverständigen, noch begehren sie weise zu werden. Denn das eben ist das Verderbliche am Unverstand, dass man, ohne schön, gut und verständig zu sein, dennoch sich selber genug dünkt." [Platon]

Eine Möglichkeit, die Welt als Ganzes zu betrachten, besteht darin, dass man sich eines Planes oder einer Art Landkarte bedient, die zeigt, wo die verschiedenen Dinge zu finden sind - selbstverständlich nicht alle, denn dann müsste eine solche Karte so gross wie die Welt sein, aber die Dinge, die für die Orientierung am wichtigsten und vordringlichsten sind: sozusagen auffallende Markierungspunkte, die man nicht übersehen kann, oder die, wenn man sie übersieht, den Menschen in völlige Ratlosigkeit stürzen. Der wichtigste Teil jeder Untersuchung oder Erforschung ist der Anfang. Man kann in späteren Stadien der Untersuchung die strengsten Verfahren anwenden - wenn man falsch oder oberflächlich begonnen hat, wird man diesen Fehler nicht mehr korrigieren können.

Die Kartographie ist eine empirische Kunst, die einen hohen Abstraktionsgrad verlangt, sich aber dennoch mit einer Art Selbstverleugnung an die Realität hält. Ihr Motto ist gewissermassen <alles aufnehmen, nichts auslassen>. Wenn es etwas gibt, wenn etwas eine Art von Existenz hat, wenn Menschen es bemerken und daran interessiert sind, muss es auf der Karte auch erscheinen, und zwar an seinem richtigen Platz. Philosophie ist nicht nur Kartographie, ebensowenig wie sich die gesamte Geographie im Anfertigen von Karten oder Orientierungsplänen erschöpft. Es ist lediglich ein Anfang - eben der Anfang, der gegenwärtig fehlt, wenn Menschen fragen: "Was bedeutet all das?" oder "Was soll ich mit meinem Leben tun?"

Meine Karte oder mein Orientierungsplan gründet sich auf die Anerkennung der vier Grossen Wahrheiten - gleichsam Wegzeichen - die so herausragend und allesdurchdringend sind, dass man sie überall sehen kann, ganz gleich, wo man sich befindet. Wer sie erkennt, kann mit ihrer Hilfe stets seinen Standort bestimmen; wer sie nicht zu erkennen vermag, hat sich verirrt.

Man könnte sagen, dass es in dem Orientierungsplan um <das Leben des Menschen in der Welt> geht. Aus dieser einfachen Aussage ergibt sich, dass wir näher ins Auge fassen müssen:

1. <Die Welt>,
2. <Den Menschen> - und das, womit er ausgestattet ist, um <der Welt> zu begegnen,
3. seine Art, die Welt zu erfahren, und
4. was es heisst, in dieser Welt zu <leben>.

Die Grosse Wahrheit über die Welt ist die, dass es sich bei ihr um einen hierarchisch gestaffelten Bau von mindestens vier grossen Seinsstufen handelt.
Die Grosse Wahrheit über das, womit der Mensch ausgestattet ist, um der Welt zu begegnen, ist das Prinzip der <Adäquatheit> (adaequatio).
Die Grosse Wahrheit darüber, wie der Mensch lernt, bezieht sich auf die <Vier Wissensbereiche>. Die Grosse Wahrheit darüber, wie man dies Leben in dieser Welt lebt, bezieht sich auf die Unterscheidung zwischen zwei Arten der Problemstellung, nämlich <konvergierenden> und <divergierenden>.

Eine Karte oder ein Orientierungsplan, das muss ganz klar gesagt werden, <löst> keine Probleme und <erklärt> keine Geheimnisse, sondern hilft lediglich, diese kenntlich zu machen.

Die Aufgabe, die Buddha in seinen letzten Worten geäussert hat: "Betreibt mit Eifer eure Rettung" - bleibt jedermann selbst überlassen. Den Vorstellungen der tibetischen Lehrer entsprechend ist zu diesem Zweck: " . . . eine Philosophie unerlässlich, die alles Wissen umfasst; . . . ein System der Meditation unerlässlich, das die Kraft zu geistiger Konzentration auf jeden beliebigen Gegenstand hervorrufen kann; . . . eine Lebensweise unerlässlich, die uns befähigt, alles Tun (von Körper, Wort und Geist) zum Fortschreiten auf dem rechten Pfad zu nutzen."

When you can measure what you are speaking about, and express it in numbers, you know something about it;
but when you cannot measure it, when you cannot express it in numbers, your knowledge is of a meagre and unsatisfactory kind;
it may be the beginning of knowledge, but you have scarcely in your thoughts advanced to the state of Science, whatever the matter may be.

Lord Kelvin

Teil II

Die neueren europäischen Philosophen waren selten getreue Kartographen. Descartes (1596 bis 1650), dem die moderne Philosophie so viel verdankt, ging beispielsweise an seine selbstgestellte Aufgabe gänzlich anders heran. Er sagte, dass "wer den richtigen Weg zur Wahrheit sucht, mit keinem Gegenstand umgehen darf, über den er nicht eine den arithmetischen oder geometrischen Beweisen gleiche Gewissheit gewinnen kann." "Nur mit solchen Gegenständen darf man umgehen, zu deren zuverlässiger und unzweifelhafter Erkenntnis unsere Erkenntniskraft offenbar ausreicht."
Descartes, der Vater der modernen rationalistischen Haltung, betonte: "Denn schliesslich dürfen wir uns . . . immer nur von der Evidenz unserer Vernunft überzeugen lassen." Insbesondere hob er hervor: "Und man beachte, dass ich sage, von unserer Vernunft und nicht von unserer Einbildungskraft oder unseren Sinnen." Die Methode der Vernunft besteht im Versuch, "verwickelte und dunkle Proportionen stufenweise auf einfachere zurückzuführen und sodann von der Intuition der allereinfachsten zur Erkenntnis aller anderen über dieselben hinaufzusteigen . . ." Das ist ein von einem kraftvollen und zugleich erschreckend engen Geist entworfenes Programm; seine Enge wird weiterhin an der Regel deutlich:

"Wenn in der Reihe der Sachverhalte, die gesucht werden sollen, etwas vorkommt, was unser Verstand vermittels Intuition nicht zufriedenstellend durchschauen kann, so muss man dort haltmachen und darf das, was sonst noch folgt, nicht mehr prüfen, sondern muss sich überflüssiger Arbeit enthalten."

Descartes begrenzt sein Interesse auf Wissen und gedankliche Vorstellungen, die über jeden Zweifel hinaus genau und gewiss sind, da er sein Hauptziel darin sieht, dass wir "uns so zu Herren und Eigentümern der Natur machen könnten." Nur was sich quantifizieren lässt, kann genau sein. Jacques Maritain sagt dazu:
"Die mathematische Kenntnis der Natur ist für Descartes nicht, was sie in Wirklichkeit ist, nämlich eine bestimmte Interpretation von Erscheinungen . . ., die keine auf die Grundprinzipien der Dinge zielenden Fragen beantwortet. Sondern dies Wissen enthüllt ihm das eigentliche Wesen der Dinge. Sie werden durch geometrische Erweiterung und Veränderung des Ortes erschöpfend analysiert. Die Gesamtheit der Physik, das heisst die Gesamtheit der Naturphilosophie, ist nichts als Geometrie.
Somit führt die kartesianische Beweisführung geradewegs zur Mechanisierung. Sie mechanisiert die Natur, tut ihr Gewalt an, vernichtet alles, was die Dinge dazu bringt, als Symbole am Genius des Schöpfers teilzuhaben, zu uns zu reden. Das Universum verstummt."

Es gibt keine Gewähr dafür, dass die Welt so eingerichtet ist, und dass unbezweifelbare Wahrheit die ganze Wahrheit bedeutet. Ausserdem: wessen Wahrheit, wessen Verständniskraft wäre das? Die des Menschen. Eines jeden Menschen? Sind alle Menschen dem Begreifen der ganzen Wahrheit "adäquat"? Wie Descartes gezeigt hat, kann der Verstand des Menschen alles bezweifeln, was er nicht leicht zu erfassen vermag, und einige Menschen neigen mehr zum Zweifel als andere.

Descartes brach mit der Tradition, räumte auf mit ihr und machte einen neuen Anfang, er wollte alles selbst erkennen. Diese Art von Überheblichkeit wurde zum <Stilmerkmal> der europäischen Philosophie. "Jeder moderne Philosoph", merkt Maritain an, "ist in dem Sinne Kartesianer, dass er sich selbst als jemanden betrachtet, der vom Absoluten aus aufbricht und die Aufgabe hat, die Menschen zu einem neuen Weltbild zu führen."

Die vermeintliche Tatsache, dass die Philosophie " . . . von den ausgezeichnetsten Köpfen einer Reihe von Jahrhunderten gepflegt worden ist und dass es gleichwohl noch nichts in ihr gibt, worüber nicht gestritten würde und was folglich nicht zweifelhaft wäre", führte Descartes zu etwas, das einer <Abkehr von der Weisheit> gleichkam und der ausschliesslichen Konzentration auf ein Wissen, das so fest und unbezweifelbar war wie Mathematik und Geometrie. Francis Bacon (1561 bis 1626) argumentierte bereits auf einer ähnlichen Ebene. Skeptizismus, in der Philosophie eine Form des Defätismus, wurde zur Hauptströmung der europäischen Philosophie. Er hob, nicht ohne Folgerichtigkeit, hervor, dass die Reichweite des menschlichen Geistes streng begrenzt sei, und dass es keinen Anlass gebe, sich mit Dingen ausserhalb ihrer zu beschäftigen. Herkömmliche Weisheit sah den menschlichen Geist zwar als schwach, doch nahezu unbegrenzt entwicklungsfähig an, das heisst, als in der Lage, über sich selbst hinaus auf immer höhere Stufen überzugreifen. Das neue Denken hingegen stellte als Axiom auf, dass die Reichweite des menschlichen Verstandes deutlich umrissene und enge Grenzen habe, die sich genau bestimmen lassen, aber innerhalb ihrer über praktisch unbegrenzte Kräfte verfüge.

Vom Standpunkt der philosophischen Kartographie aus bedeutete das eine sehr starke Verarmung: ganze Bereiche des menschlichen Interesses, denen die intensivsten Bemühungen früherer Generationen gegolten hatten, tauchten einfach nicht mehr auf den Karten auf. Zugleich lag darin ein noch entscheidenderer Rückzug und eine noch bedeutendere Verarmung: hatte traditionelle Weisheit die Welt stets als dreidimensional (durch das Symbol des Kreuzes) dargestellt - wobei es nicht nur sinnvoll, sondern auch von tiefer Bedeutung war, stets und überall zwischen "höheren" und "niedrigeren" Dingen und Seinsstufen zu unterscheiden - so trachtete das neue Denken entschlossen, um nicht zu sagen fanatisch, danach, die Dimension der Vertikalen abzuschaffen. Wie waren überhaupt klare und genaue Vorstellungen von solchen qualitativen Begriffen wie "höher" oder "niedriger" zu gewinnen? Bestand nicht die dringendste Aufgabe des Verstandes darin, quantitative Messungen an ihre Stelle zu setzen?

Vielleicht war Descartes' <Mathematismus> zu weit gegangen, auf jeden Fall machte Immanuel Kant (1724 bis 1804) einen neuen Anfang. Doch wie Etienne Gilson, der unvergleichliche Meister der Philosophiegeschichte, bemerkt, "ging Kant nicht von der Mathematik zur Philosophie über, sondern von der Mathematik zur Physik. Wie Kant selbst sogleich folgerte: <Die ächte Methode der Metaphysik ist mit derjenigen im Grunde einerlei, die Newton in die Naturwissenschaft einführte, und die daselbst von so nutzbaren Folgen war . . .> Die Kritik der reinen Vernunft beschreibt meisterlich, wie der menschliche Geist beschaffen sein müsste, um das Bestehen eines newtonschen Naturbegriffs erfassen und annehmen zu können, vorausgesetzt, dass diese Vorstellung der Wirklichkeit entspricht. Nichts kann deutlicher die Grundschwäche der physikalischen Vorgehensweise als einer philosophischen Methode zeigen."

Weder Mathematik noch Physik können mit den qualitativen Begriffen <höher> oder <niedriger> etwas anfangen. So verschwand die Dimension der Vertikalen aus den Karten der Philosophen, die sich anschliessend mit ziemlich weit hergeholten Aufgabenstellungen beschäftigten wie <Gibt es andere Menschen?> oder <Wie kann ich überhaupt etwas wissen?> oder <Machen andere Menschen Erfahrungen, die den meinigen entsprechen?> und die somit den Menschen nicht mehr bei der äusserst schwierigen Aufgabe von Nutzen waren, ihren Weg durchs Leben zu finden.

Die eigentliche Aufgabe der Philosophie formulierte Etienne Gilson wie folgt:
"Es ist ihre ständige Pflicht, einen sich stets vergrössernden Bereich wissenschaftlicher Kenntnis zu ordnen und zu regeln und immer vielschichtigere Probleme des menschlichen Verhaltens zu beurteilen. Es ist ihre nie endende Aufgabe, die alten Wissenschaften in ihren natürlichen Grenzen zu halten, neuen Wissenschaften ihren Platz und ihre Grenzen zuzuweisen.....